Rinderkulte _ die Kuh ist uns heilig !
Seit Tausenden von Jahren verehrt der Mensch sein wichtigstes Haustier und findet im Lauf der Zeit zu vielfältigen Ausdrucksformen dieser tiefen Zuneigung. Ein kleiner Ausflug in die "Welt der Kuh-Kulte" öffnet den Blick auf die Hintergründe dieser kulturellen Koevolution:
Höhlenmalerei: die Geburt der Kunst
Die Höhle von Lascaux bei Montignac in Frankreich bietet ein Zeugnis der vorzeitlichen Verehrung des Urrindes. Dort finden sich 18.000 Jahre alte Bildergeschichten steinzeitlicher Jägervölker, geschaffen aus Erdpigmenten, mit einfachen Pinseln, Holz oder Blasrohren aufgetragen. Neben Wisenten, Wildpferden und Rentieren bedecken über 50 Darstellungen von Urrindern die Höhlenwände. War diese Höhle ein Ort kultischer Jagdmagie und nächtlicher Initiationsriten ? Eine Hochschule für junge Steinzeitjäger ? Oder Lebenswerk eines Schamanen und Künstlers ?
Keltische Machtsymbole
Bei den Kelten und Germanen waren die Urrinder als kostbare Jagdtrophäe geschätzt. Ihre Hörner wurden mit Gold und Silber verziert und dienten bei prunkvollen Gastmählern als wertvolle Trinkgefäße. Die reichhaltige Symbolwelt brachte viele Kleinskulpturen und Kultobjekte in Stiergestalt hervor. Sogar spezielle Schriftzeichen, die Runen "uruz" (Auerochse, Kraft, Stärke) und "fehu" (Vieh) existierten und zeugen von der immensen Bedeutung des Rindes für diese Völker.
Neolithische Opferkulte
Dem Rind fiel in den neolithischen Kulturen eine bedeutende Rolle als Opfertier zu. Ausgrabungen (z.B. in der Siedlung "Catal Hüjük" im heutigen Anatolien) brachten derartige Rinder-Kultstätten ans Tageslicht: in ihrem Inneren fanden sich Lehmskulpturen von Rinderköpfen, Wandgemälde und Reliefdarstellungen sowie Knochen und Hörner.
Kreta
Artistische Schauspiele am minoischen Königshof, vor 3.500 Jahren: die Auftritte der Stierspringer auf Kreta waren große Volksfeste. Der Stier war Ursprung und Mittelpunkt dieses Rituals und bot seinen Kopfschmuck als Turngerät an, mit dem mutige Akrobaten durch die Luft geschleudert wurden um auf dem Rücken des Stiers zu landen - diese waghalsigen Aktionen dienten als Beweis für den Bund zum Tier und dessen kultische Verehrung.
Griechenland
In der griechischen Mythologie begegnet man immer wieder dem Rind. Gott Zeus nimmt beispielsweise Stiergestalt an, um die schöne Europa nach Kreta zu entführen. Sie gebiert ihm den Sohn Minos, der später König von Kreta wird. Dessen Gattin Pasiphae jedoch verliebt sich in einen Stier und so entsteht der gefürchtete, menschenfressende Minotaurus. Er bewohnt das Labyrinth von Knossos und wird am Ende vom Helden Theseus getötet.
Indien
Das Rind spielt auch in den Glaubensvorstellungen des Hinduismus eine zentrale Rolle. Seine Mißhandlung oder Tötung gilt als Verbrechen, das schwerer wiegt als Mord an einem Menschen. Die Heilige Kuh gilt als Sinnbild der Natur, bewirkt rituelle Reinheit und verkörpert das Grundprinzip "Adroha" (Wohlwollen). Der Legende nach rettete einst eine Kuh mit ihrer Milch das Leben des verfolgten "Krischna". Kühe sind es auch, die die Toten über den von Krokodilen wimmelnden Totenfluß "Vaitarani" ziehen.
Spanien
Der Stierkampf ("Corrida") ist einer der umstrittensten Rinderkulte. Schon in prähistorischen Riten der iberischen Stämme spielten Stiere eine zentrale Rolle. Die Anfänge der spanischen Corrida sind in sog. "Stierläufen" zu suchen, an denen ganze Dorfgemeinschaften teilnahmen. An ihrem Ende wurde der Stier getötet und verspeist. Griechische und römische Einflüsse verwandelten dieses archaische Ritual in ein blutiges Spektakel. Für ihre Anhänger ist die "Corrida" Ausdruck des Kampfes zwischen dem Menschen und der wilden Kraft des Tieres.
Schweiz
Eringer sind kraftvolle Rinder, die bereits mit den Römern in das Gebiet des heutigen Kantons Wallis gekommen sind. Aus einem charkteristischen Wesenszug - ihrer Kampfeslust - entwickelte sich die Tradition der Kuhkämpfe, die sich bis heute erhalten hat. Die Walliser Bauern lassen ihre Kühe in fünf Gewichtsklassen gegeneinander antreten und küren am Ende die Königin ("la Reine"), die ihrem Besitzer hohes Ansehen einbringt.
Alpenraum
Im Alpenraum werden Wald- und Wiesenflächen bis zur alpinen Höhenstufe bewirtschaftet und mit Rindern beweidet. Das Vieh bleibt oft bis September auf den Almen. Dann findet in vielen Gemeinden ein Almabtrieb zusammen mit einem Almfest oder Bauernmarkt statt. Die besten Milchkühe erhalten als Kopfschmuck den "Milchstaffel", die stärksten zwei Kühe werden als "Roblerin" bezeichnet - ihnen wird am Kopf ein Spiegel befestigt. Nur wenn alle Rinder gesund von der Almperiode zurückkommen, werden sie geschmückt.
Amerika (USA)
Rodeo ist ein Sport, der aus der täglichen Arbeit der Cowboys entstanden ist. Sie mussten ihre Reit- und Lassokünste auf einen hohen Standard bringen, um die Rinderherden erfolgreich lenken zu können. Am Ende des harten Arbeitstages traten sie gegeneinander an, um zu beweisen, wer die größten Fähigkeiten besitzt. Bullriding gehört zu den verschiedenen Disziplinen des Rodeo - neben Lassowerfen, Zureiten von Pferden oder dem Treiben einer Rinderherde.
Afrika
Die Massai Ostafrikas sind ein Hirtenvolk, das bis heute in engem Bezug zu Rindern lebt. Der Sage nach gab ihnen der Gott des Berges "Oldonyo Lenkai" die Rinder, die er an den Wurzeln eines wilden Feigenbaumes auf die Erde herabliess. Eine Familie besitzt mindestens 50 Rinder, besonders wohlhabende Massai haben Herden von bis zu 1.000 Stück. Traditionell ernähren sie sich von einem Gemisch aus Milch und Rinderblut, das den Tieren an der Halsschlagader abgezapft wird, ohne sie zu töten. Die Mythen der Massai kreisen seit jeher um das Rind, und sie verwenden ein komplexes Vokabular für die Farben und Zeichnungen ihrer Tiere.
Bis heute besitzt die Kuh Kultstatus !
Industrie und Werbung haben Ihr Starpotential entdeckt und benutzen ihr positives Image. Doch direkter Kontakt mit dem Tier findet kaum mehr statt. Viele Stadtkinder denken heute, Kühe seien von Natur aus lila. Die Berühmtheit unseres wichtigsten Haustiers besteht nur mehr aus einer Oberfläche, mit der jeder erdenkliche Artikel lackiert werden kann. Die wahren Qualitäten der Rinder - ihr sanftes Wesen, ihre Anpassungsfähigkeit und kulturgeschichtliche Bedeutung - bleiben meist im Verborgenen.